Dr. Karen Kohfeld, Übersetzung W. Ermann
Liebe Mom,
Ich bin wohlbehalten wieder zurück aus Dresden… Dresden war unglaublich aufregend und interessant und anstrengend, genau wie ich es erwartet habe (und was erfreulich ist: ich lerne diese Adjektive in Deutsch zu benutzen). Ja, und hier ist nun der Tagebucheintrag über diesen Trip.
Am Sonntag Morgen holte Wolfgang uns (Beate, Trevor und mich) an unseren verschiedenen Wohnstätten ab – nicht direkt zu unanständig früher Stunde, aber später wäre bequemer gewesen. Nach der letzten stressigen Arbeitswoche war ich ziemlich geschafft. In dieser Hinsicht wirkte der Chor für mich wie eine Art Meditation, indem er meine Aufmerksamkeit auf Dinge weit weg von meiner Arbeit lenkte. Nun gut, das ist vielleicht nicht die ganze Wahrheit: ich verbrachte eine ganze Menge Zeit damit, meinen Mitfahrern die Antwort auf die immer wieder verwirrende Frage zu geben: Was MACHE ich eigentlich wirklich???
‚Party Konversation Thema 3: Staub und Klima‘ und ‚Partygespräch über der Punschbowle Thema 43: Was exakt ist eine „Planktonische Foraminifera“‘, und wen INTERESSIERT das?‘
(Wie Du siehst, habe ich dieses beunruhigende Gefühl, dass ich ungeniert geschnattert habe, und das über einen unproportionalen Zeitraum unserer 2-Stunden-Fahrt…)
Aber egal, ich war aufgeregt und wollte weg und wollte Dresden wiedersehen. Meine liebste Erinnerung an meine Reise mit Freunden war eine Wanderung entlang der Elbe in einer kalten, klaren Nacht auf unserem Weg zu einem Jazzkonzert ca. 5-6 km südöstlich der Innenstadt. Der Blick auf das Zentrum von der Elbe aus ist absolut hinreißend, besonders in einer klaren Nacht. Alle die klassischen Gebäude sind von unten beleuchtet und werfen die schimmernden Reflexe der grünen Kupfertürme und der beleuchteten Brücken, gemischt mit Sternen und Wolken, auf die Elbe. Auf der jetzigen Reise mit dem Chor nahmen wir am Elbhangfest teil, einem Musik- und Kunstfestival entlang des Elbufers, über eine Strecke von 6-8 km zwischen der Brücke „Blaues Wunder“ und dem Pillnitzer Schloß. Ich freute mich darauf, wieder wie zuvor am Ufer der Elbe entlangzuwandern.
Wir kamen an und entluden alles in eine Kirche in der Wittenbergstraße – wir sollten in einem kleinen Raum über der Kirche schlafen. Wolfgang holte die Schlüssel von einem nahegelegenen Haus, und wir vier waren die ersten, die den Raum betraten, welcher von einem überwältigenden Geruch nach Mottenkugeln beherrscht wurde. (Es müssen Mottenkugeln gewesen sein. Solange wir dort waren, habe ich keine einzige Motte gesehen!) Wir öffneten einige Fenster, um den Geruch zu bekämpfen. Es half nicht WIRKLICH, aber wir erhielten zumindest etwas Durchzug und senkten die Verweilzeit der Luft im Raum doch beträchtlich. (Man lese: es stank nicht mehr so sehr). Netterweise hatte mir Wolfgang eine Luftmatratze und einen Schlafsack ausgeliehen – und so musste mein Kopf nicht auf dem Teppich liegen.
Nach Essen und Probe begaben wir uns alle gemeinsam per Bus, Straßenbahn und Fähre zum Festival (angetan mit unseren kleinen, gelben, krankenhausähnlichen Elbhangfest-Armbändern). Eine interessante Sache über die Elbe, Mom. Weißt Du, wie die Flussufer in den USA behandelt werden? Ich meine damit, außer wenn da ein Park ist oder auch Privatbesitz, findest Du in keiner größeren US-Stadt auch nur einen Zentimeter Flußufer, der unbewohnt ist. Hier ist praktisch das gesamte Flußufer von der Stadt bis nach Pillnitz unbesiedelt. Gelegentlich gibt es eine Anlegestelle für eine Fähre, aber meistens sind da nur Schilf, Gras, Moos, Enten und ein paar Fußwege (und an diesem Abend ein paar Freudenfeuer). Das Ergebnis ist unglaublich und schön. Ich bekomme nun ein Gefühl dafür, wie eine Flußlandschaft aussehen sollte. Verwundert hat mich auch, wie schmal die Elbe ist, besonders nachdem ich in Tolstois „Krieg und Frieden“ darüber gelesen habe, wie während der Napoleonischen Kriege die verschiedenen Truppen mutig die Weiten all der tückischen deutschen Flüsse überquert haben … In meinen Reisen durch Deutschland suche ich immer noch nach diesen tückischen Weiten … Die meisten dieser Flüsse sahen zwar nass, aber schmal aus. Ich habe das Gefühl, dass ein Leben am Mississippi und an der Mündung des Hudson jemandes Begriff von „Weite“ nicht unerheblich beeinflusst.
Na egal, eigentlich geht es ja um das Gospelsingen: wir sangen in einer kleinen Kirche namens „Maria am Wasser“. Das Konzert war nicht gerade das, was ich als eine unserer besten Vorstellungen bezeichnen würde, zwar viel mehr als eine Pflichtaufführung – aber eine Konzert, bei dem du das Gefühl hast, du hättest mehr geben können. Das war aber okay. Ich selbst bekomme nei jedem Mal ein besseres Gespür für die Art von Musik und Rhythmus, um die die Jubilee Singers sich bemühen. Ich erlebe immer wieder mal eine lustige Überraschung (z.B. fehlende Seiten 6-10 in den Noten eines Liedes), aber ich fühlte mich weit mehr als Mitglied des Chores denn als Eindringling.
Anschließend gingen Julia, Beate, Renate und ich zurück zum Schloß Pillnitz und wanderten durch die Parkanlagen. Du weißt, Mom, dass das einer der Plätze ist, die ich Dir zeigen will, wenn Du mich besuchst (Du hast sicher schon gemerkt: je länger Du wartest, desto mehr Sachen habe ich für Dich gefunden. Mittlerweile habe ich 2 Monate randvoll mit Aktivitäten für Dich … bitte plane doch Deinen Besuch entsprechend ..) Die Parks waren unglaublich. So viele verschiedene Baumarten, und einige von ihnen wurden vor mehreren Jahrhunderten gepflanzt – da gab es sogar eine „Baby“-Sequoia (die ich irrtümlicherweise als Zeder angesprochen habe – Mom, wo hast Du da was falsch gemacht?). Es war sehr schön dort, außer durch das Grüne spazierten wir auch noch durch mehrere Konzerte. Da gab es zum Beispiel einen Reggae-Schlager-Mix beim Wein (wenn Du nur wüsstest, wie lustig eine solche Kombination wirklich ist), einen Jongleur, der virtuell mit Glaskugeln auf seinen Fingerspitzen tanzte, einen Pianisten unter einem Baum und ein Böhmisches Dudelsackorchester (klingt besser als die Bezeichnung vermuten lässt).
Als wir das Schloß verlassen hatten und am Ufer entlangwanderten, hörten wir in der Ferne eine Keltische Band, Dixieland, etwas Jazz und Rock. An einer anderen Stelle die bekannten Klänge von Credance Clearwater Revival, die mich dazu brachten, mit Beate auf der Straße zu tanzen und herumzuwirbeln. Was auch wunderbar ist, wenn man mit einem Chor unterwegs ist: Wenn irgend jemand spontan zu singen anfängt, bestehen sehr gute Chancen, dass drei oder vier andere Leute mit einstimmen – in Harmonie. Außerdem musste ich feststellen, dass Beate genau wie ich an dem Unvermögen leidet, beim Hören von guter Musik stillzustehen. Als der 50er Rock-n-Roll begann, drehten wir einander ein paar Mal in Kreisen über die Straße und kicherten ziemlich viel – Du kannst Dir vorstellen, dass mich das immens aufgemuntert hat.
Meine Begleiter waren großartig – Julia kenne ich nun schon eine Weile – sie ist wirklich die Mutter von Jena. Sie scheint jedermann zu kennen und hat diese unglaubliche Gabe, jedem, den sie trifft, das Gefühl zu vermitteln, etwas besonderes zu sein und willkommen zu sein. Beate habe ich gerade kennengelernt – eine Kinderärztin, die viele Arten von Musik mag – ich glaube sie singt und tanzt zu allem. Und Renate wirkt auf mich wie eine OWO – Old Wise One [Alte Weise Person]. Hmmmm… ich sollte wohl etwas klarstellen: ein OWO ist jemand, der gleichzeitig Erfahrung und Gelöstheit vermittelt. Als ich Senior-Student war, war ich für einige Freunde eine OWO… Du bist eine OWO, Mum, für deine vielen Studenten. Renate hat die Eigenschaften einer OWO: Eine geduldige Zuhörerin meines holprigen Deutsch, die mir sehr freundlich bei der Verbesserung half. Ich hoffe sie hat auch gemerkt, dass ich glücklich über ihre Hilfe war.
Auf jeden Fall war es einfach spaßig, mit ihnen dort zu wandern. Julia ist angefüllt mit interessanten kleinen Informationen. Zum Beispiel erzählte sie mir, dass „in früheren Zeiten“ (in diesem Falle: vor der Wiedervereinigung), die Leute in Thüringen Dresden als das „Tal der Ahnungslosen“ bezeichneten. Dresden ist zu weit von der alten Grenze entfernt, als dass die Leute dort Radio oder Fernsehen aus dem Westen hätten empfangen können. So lebten die Leute in Dresden im Vergleich zu denen aus Jena und Umgebung in größerer Unwissenheit des Westens. Es sind gerade kleine Details wie diese, die mir helfen, mir ein besseres Bild vom Leben in Ostdeutschland zu machen. Mir ist es immer peinlich, mich hinzusetzen und zu jemandem zu sagen: „Erzähl mir von Deinem Leben.“ Das bringt nicht immer etwas. Aber wann immer ich die Möglichkeit habe, erinnere ich mich an diese kleinen Sachen. Kürzlich saß ich auf einer Party und hörte einer Frau meines Alters zu, die mir 2-3 Stunden lang ihre Kindheit beschrieb, und es war faszinierend. Und ich schließe davon natürlich nicht auf eine ganze Kultur. Und ich frage mich, ob den Leuten im Osten klar ist, dass geschlossene Grenzen in beiden Richtungen wirken. Wenn ich an das wenige zurückdenke, was ich in der Schule für Geografie tat – die ostdeutschen Länder gab es da nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich für mich selbst ein ganzheitliches Bild aus Gesichtern und Lebensläufen zusammenbaue, von Menschen, die zu treffen ich vor 10-12 Jahren gar keine Chance gehabt hätte. Und wenn ich daran denke, dass ich wirklich hier lebe, fühle ich mich immer noch erstaunt und glücklich.
Aber nun wieder zurück: Ein anderer Höhepunkt für mich war, als ich ein Karussell bestieg (eigentlich mehr eine Schaukel als ein Karussell) und in Kreisen in die Nachtluft gedreht wurde. Es war ungefähr 22:30, und der Himmel hatte noch seine „Blaue Stunde“, die Zeit zwischen dem Zwielicht und dem Eintritt der wirklichen Dunkelheit. Es war absolut großartig. Ich schloß meine Augen und spürte den Wind und hatte das Gefühl, in der Luft über der Elbe zu schwimmen. Es war fantastisch.
Anschließend setzten wir unsere Tour entlang des Flusses fort, wir trafen auf noch mehr Musik, und dann sahen wir in der Ferne den Beginn des Feuerwerks und am Flußufer einige kleine Freudenfeuer. Ich muß gestehen, iregndwann um diesen Zeitpunkt herum begann ich die Entfernung zu spüren, die wir zurückgelegt hatten. Ich war immer noch aufgeregt und freute mich über neue Dinge, aber ich begann mich müde zu fühlen. Ich wollte zurück auf die Luftmatratze. Und sooft wir auch fragten, wie weit es noch bis zur Brücke wäre, erhielten wir dieselbe Antwort „Nur ein paar hundert Meter in dieser Richtung …“. Nachdem wir das Blaue Wunder überquert hatten, verzichteten wir glücklicherweise auf unser ursprüngliches Vorhaben, den ganzen Weg nach Hause zu laufen, und nahmen ein Taxi zurück zur Kirche. Es kam für uns billiger als der Bus für 4 Personen. Und ich erinerte mich an Klaus (Lassak)’s berühmten Ausspruch: „Amerikaner nehmen immer Taxis.“ Nenne mich schwach – ich bin nicht stolz. Nach 8 km Wanderung (und Julia behauptet, in dem Karussell hätte ich in Kreisen über der Elbe 2 weitere Kilometer zurückgelegt), war ich reif für ein Taxi.
Gegen 00:15 kamen wir zurück in eine vollkommen dunkle Kirche. Wir stolperten in den dunklen Raum, stiegen vorsichtig über herumliegende Körper, wühlten in unseren Sachen herum und bereiteten uns zum Schlafen vor. Vor allem dank Wolfgangs hilfreicher Warnung an Beate: „Achtung, das ist mein Gesicht!“ konnten wir es vermeiden, auf irgendwelche Körperteile zu treten. Obwohl ich es bequem hatte und todmüde war, konnte ich nicht einschlafen. Glücklicherweise waren die Kirchenglocken nachts abgeschaltet, sodass mir der Service, jede abgelaufene Viertelstunde durch einen Glockenschlag angezeigt zu bekommen, erspart blieb. Aber ich glaube, sich in einem Raum voller schlafender Menschen wohlzufühlen, braucht eine Weile. Ich war nicht frustriert darüber sondern fand mich damit ab, den Autos draußen auf dem Kopfsteinpflaster, dem tiefen Atmen und anderen raschelnden Geräuschen all der Menschen in dem Raum zu lauschen.
Irgendwann hätte ich über die rhythmische Schnarcherei beinahe angefangen zu lachen. Wie perfekt für die Mitglieder eines Gospelchores, in einem typischen „Ruf und Antwort“-Format zu schnarchen. Irgendwo in meiner Nähe schnarchte ein tiefer Bass ein Bessie-Smith-Solo – „Sheep! Sheep! Dontcha know da Road! [Schafe! Schafe! Kennt ihr den Weg nicht!]“, und der Chorus der Atemgeräusche in höheren Tonlagen und der Nasenpfeifen antwortete mit „Yay Lawd! I know da Road! [Ja Herr! Ich kenne den Weg!]“. (Ja gut, vielleicht war es nicht genau so, aber im Halbschlaf ist die Fantasie ziemlich rege.) Nun ja, irgendwann bekam ich auch eine Mütze voll Schlaf, und ich bin sicher, dass ich mich vor dem Morgengrauen mit einigen Pfeif- und Schnarchlauten in den Chor eingebracht habe.
Wie ich schon früher über den Chor gesagt habe, es ist so erfrischend, von Leuten umgeben zu sein, die nicht meine Mitarbeiter sind. Ich saß Sonntag morgen am Frühstückstisch und ertappte mich dabei, wie ich einfach im Zimmer herumschaute – zum einen, weil der Kaffee eine Weile brauchte, mich aus meiner Benommenheit herauszureißen, aber auch weil es so angenehm war, sich unter Menschen zu befinden, denen der Fortschritt meiner Projekte in der Arbeit egal ist. Ich fühlte mich einfach als Mensch …… Und als ich da so in meinem „vor-dem-Kaffee“-Koma saß, konnte ich mir wieder das Lachen nicht verkneifen … weil mir auf einmal klar wurde, dass ich schon ziemlich lange in Deutschland bin. Lange genug, um sofort nach der Salami zu greifen, ohne auch nur einen Gedanken an meinen Cholesterinspiegel zu verschwenden! (Aber: Ich bin noch nicht lange genug in Deutschland, um mich daran gewöhnt zu haben, dass Leute weißes Fett auf ihr Brot schmieren!)
Aber egal, nach dem Frühstück zogen wir jedenfalls aus zu unserem nächsten Auftritt – in einer anderen Kirche bei Pillnitz – am Fuße eines Weinbergs. Die Kirche lag idyllisch am Fuße eines lieblichen Weinberges, der den Berghang bedeckte. Es war eine hübsche kleine lutheranische Kirche mit herrlicher Akustik – und mit einem Male waren wir uns alle sicher, dass wir bei diesem Auftritt wesentlich besseren Kontakt zum Rest der Gemeinde finden würden.
Zusätzlich zum Singen war es für mich interessant, an meinem ersten vollständigen deutschen Gottesdienst teilzunehmen. Ich saß neben Klaus und fragte ihn, ob er jemals zur Kirche ginge und was er von all dem hielte. Er sagte, oh nein, er ginge nicht wirklich zur Kirche. Aber er hätte als Chormitglied in verschiedenen Kirchen gesungen. Ähnlich wie ich, glaube ich. Ich denke, es war wie in den meisten protestantischen Gottesdiensten in Amerika, außer dass es hier viel mehr Musik gab und dass auch applaudiert wurde. Ich muss sagen, das seltsamste für mich war, Gott als „Herr“ bezeichnet zu hören. Das erscheint mir ziemlich formal und unpersönlich. Das erinnert mich daran, warum ich den Unitarianismus vorziehe – er gibt mir nicht das Gefühl, ein höheres Wesen mit „Dear Sir“ anreden zu müssen. Ja, aber die Musik war durchweg erfreulich.
Anschließend erklommen wir den Weinberg und verkosteten ein gut Teil regionaler Weine. Der Ausblick war absolut toll und ich war selig. Ich hätte dort oben für den Rest des Tages sitzenbleiben können. Aber leider mussten wir wieder zurück – wir stiegen den Berg wieder hinunter und gönnten uns eine sehr gutes Mittagessen (ich war wieder am Schnattern – diesmal eindeutig beeinflusst vom Wein und dem Ausblick), bevor wir uns auf den Weg nach Hause machten. Alles in allem ein wunderschöner Ausflug.
Ja, und nun muss ich schnell los zur nächsten Chroprobe. Ich sehe diese Truppe oft diese Woche … aber wie Du weißt – ich singe gern. Ich hoffe bei Dir ist alles okay.
In Liebe,
Karen